Geschrieben von: Cord Hagen
Überarbeitet von: Nathalie Sorichter
Es war einmal ein kleiner Maulwurf namens Mole. Er lebte glücklich und zufrieden im Dämmerlicht an der Erdoberfläche, bis er eines Tages ganz unerwartet durch ein Loch in einem Maulwurfshügel in die Tiefe fiel. Zum Glück hatte er sich bei seinem Sturz nichts gebrochen.
Er rappelte sich auf und blickte sich hier unten um. Hier war er noch nie gewesen. Und nachdem er ein paar Minuten lang nur den Kopf bewegt und versucht hatte, Schemen in dem Halbdunkel vor ihm auszumachen, begriff er auch warum: Die Luft war feucht und kühl, und seine Augen gewöhnten sich nur schwer an das Zwielicht hier unten. Nein, hier wollte er nicht bleiben! So beschloss er, einen Rückweg in seine Welt zu suchen.
Anfangs lief er ziellos in dem Gang auf und ab, in den er gefallen war. Er versuchte sich mit seinen Schaufelhänden an den Wänden emporzuziehen, um wieder an die Erdoberfläche zu gelangen. Dabei war das Einzige, was er erreichte, dass ihm die Hände von der Anstrengung weh taten und er Kratzspuren an den Wänden hinterließ, aus denen Erde herabfiel.
Der erlittene Rückschlag, keinen Weg zu finden, tat weh. Sehnsüchtig sah er nach oben, von wo ein Streifen Tageslicht zu ihm hereindrang. Dieser schien so freundlich und ihm so nahe zu sein, und war in Wirklichkeit doch so unerreichbar weit entfernt. Aber war er das wirklich? Er sah sich um und prüfte das Erdreich um ihn herum mit den Augen. So schnell gab er nicht auf. Immerhin schien die Erde nicht überall so hart zu sein, dass er keine Gänge graben konnte. Warum sollte er sich nicht bis oben durchbuddeln?
Sofort begann er mit neuer Hoffnung mit der Arbeit und kam so gut voran, dass er bald nur noch ein kleines Stück bis zur Erdoberfläche brauchte. Plötzlich jedoch fing die Decke an zu bröckeln und stürzte herab, wobei sie ihn wie in einer Luftblase verschüttete. Als sich der Staub gelegt hatte, blickte er sich um. Sein soeben gegrabener Gang war komplett eingestürzt. Er brauchte nicht lange zu überlegen, in welche Richtung er weitergraben sollte, und machte sich wieder ans Werk. Er war sich ganz sicher: Bald würde er wieder zu Hause sein! Immer wieder brach hinter ihm ein Großteil des Ganges zusammen. Aber das war ihm egal. Als er die herabgestürzte Erde beiseite geräumt hatte, erwartete ihn eine böse Überraschung: Er war nicht, wie gehofft, dem Tageslicht zum Greifen nahe gekommen, sondern war wieder dort gelandet, von wo er gekommen war: in dem feuchten, halbdunklen Gang unter der Erde.
Ein zweites Mal machte er sich, diesmal an einer anderen Stelle des Ganges, ans Graben. Diesmal allerdings kam er nur sehr schwer voran, da hier die Erde schier hart wie Stein war. Er gab sein Bestes, konnte irgendwann aber nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen: Die Bedingungen hier unten waren nicht die besten zum Graben, und ihm blieb kaum eine andere Wahl, als hier unten zu bleiben und das Beste aus der Situation zu machen. Verzweiflung würde ihn ja auch nicht weiterbringen.
Er saß da und überlegte, was jetzt am besten zu tun wäre. Er blickte sich in dem mittlerweile mit Erde übersäten Gang um und stellte plötzlich überrascht fest, dass er sehr viel besser sah als vorhin, als er hier heruntergefallen war. Und die Luft schien längst nicht mehr so klamm zu sein. Ihm wurde klar, dass er sich hier in einer für ihn neuen, anderen Welt befand, in der man auch leben konnte. Und er überlegte, dass dies hauptsächlich die Welt von Maulwürfen war. Und diese wollte er jetzt kennen lernen. Er wollte nicht mehr allein sein und mit seinem Schicksal hadern!
Er war in einen Seitengang gefallen, der wohl nur selten von anderen Maulwürfen gekreuzt wurde. Er lief ein Stück den Gang entlang und rief: “Hallooooo, ist da wer?” Niemand antwortete ihm. Dies wiederholte er einige Male, immer mit demselben Ergebnis. Gut, dachte er, wenn sie nicht zu ihm kamen, musste er zu ihnen gehen!
So tastete sich unser kleiner Mole an den Wänden entlang, bis er irgendwann auf einen breiten Gang traf. Hoffnungsvoll lief er weiter und begegnete bald einem anderen Maulwurf, der auch einen Straßen-, oder besser Gangplan von dem unterirdischen System hatte. So wurde er auch endlich darüber aufgeklärt, wo sich denn die vielen anderen Maulwürfe trafen, die hier unten lebten. Mole lief bis zur nächsten Bushaltestelle und setzte sich dort, um auf den Bus zu warten. Bald schon brachte ihn ein vorbeifahrender Bus viele Kilometer weit zu einem Gang, wo sich eine Menge Maulwürfe trafen, die sich zu einer großen, eingeschworenen Gemeinschaft zusammengeschlossen hatten. Dort war auch sehr viel los, aber es musste doch noch mehr Maulwürfe geben. Denn hier fühlte sich Mole noch nicht so richtig wohl.
Er machte sich wieder auf den Weg und traf erneut auf einen Maulwurf mit einer Gangkarte. Wieder fragte er den, wo er denn seinesgleichen finden könne. Der andere nannte ihm einen weiteren Zusammenschluss von Maulwürfen, die sich schon etwas zielgerichteter auf ganz bestimmte Maulwurf-Belange spezialisiert hatten. Mole dankte ihm, nahm den nächsten Bus und fuhr wiederum viele Kilometer weit durch das unterirdische Tunnelsystem. Und tatsächlich: Als er sein Ziel erreichte, saßen auch dort einige Maulwürfe, die allerdings recht wortkarg waren.
Enttäuscht fuhr Mole nun einige Tage immer hin und her. Denn auch wenn er sich bei beiden Gruppen nicht wirklich wohl fühlte, war ihre Gesellschaft trotzdem besser als das Alleinsein, und bei beiden gab es ja auch nette Leute. Außerdem brauchte er Maulwürfe, um zumindest die nötigsten Informationen darüber zu bekommen, wo man hier unten was fand und wie man sich schnell und einfach orientieren konnte. Im Gang der großen Maulwurf-Gemeinschaft von anfangs sprachen einige Maulwürfe von Dingen, für die sich längst nicht alle hier interessierten. Vielen war es ein wenig unbehaglich zumute, und da Mole große Hände zum Buddeln hatte, schlug er vor, einen eigenen Gang zu graben. Sofort krempelten auch einige andere ihre Ärmel hoch, obwohl kaum einer Mole näher als flüchtig kannte. Aber seine Idee konnte trotz alledem durchaus vernünftig sein. Wenn der Gang einstürzte, konnten sie immer noch zu ihren Kameraden zurückkehren. Jetzt aber halfen sie eifrig mit zu graben, bis der Gang schließlich fertig war. Er war noch nicht sehr groß, was sie allerdings nicht sonderlich störte. Wenn er hielt, könnten sie ihn mit der Zeit ja vielleicht Stück für Stück erweitern.
Sie brachten am Eingang ein Schild an, auf dem “BLINDzeln” stand. Da viele von ihnen schlecht sahen, fanden sie diesen Namen irgendwie originell. Einige machten sich auf kürzere Reisen und stellten in anderen Gängen Hinweisschilder auf, damit es keinem mehr so gehen musste wie unserem armen Mole anfangs. Schnell fanden sich weitere Maulwürfe ein, die sich auch in dem neuen Gang wohl fühlten. Viele von ihnen hatten weitere Ideen und wollten noch mehr Gänge buddeln. Hier aber hatten sie sich eine schlechte Stelle dafür ausgesucht, denn die Erde war zu locker und die Decke bröckelte immer wieder an manchen Stellen, weswegen sie ständig nachgebessert werden musste. Zusätzlich fiel immer deutlicher auf, dass die einzelnen Gänge der BLINDzeln-Maulwürfe viel zu weit auseinander lagen. So setzten sich eines Abends alle um ein wärmendes Lagerfeuer zusammen und berieten, was sie tun könnten. Ständig mit dem Bus zu fahren, um von Gang zu Gang zu kommen, war recht mühselig. Zusätzlich kamen ständig Marktschreier durch ihre Gänge, um ihre eigenen, teilweise sehr brüchigen und dazu noch engen Gänge feil zu bieten. Und die ungewisse Beschaffenheit der Erde hier war für sie erst recht keine Dauerlösung. So beschlossen die Maulwürfe, sich alle zusammenzutun und woanders einen festeren Rasen zu suchen, um darunter schön ordentlich alle ihre Gänge nebeneinander graben zu können. Ein paar von ihnen meldeten sich freiwillig, um solch einen Rasen zu suchen, und machten sich schon sehr bald auf den Weg. Sie schwärmten in verschiedene Richtungen aus und wurden dadurch sehr schnell fündig: Eine schöne, saftiggrüne Wiese oben und ein Erdreich darunter, in das man breite Gänge graben konnte, ohne dass sie gleich wieder einstürzten. Sie gruben probeweise mehrere nebeneinander, um auch ganz sicher zu gehen, und konnten feststellen, dass nur selten ein kleines Stück eines Tunnels einstürzte. Daraufhin packten sie in ihren bisherigen Gängen Sack und Pack zusammen und zogen gemeinsam in einer kleinen Karawane unter die schöne Wiese. Hier gruben sie nahe beieinander, um den Weg zum Nachbarn nicht ständig mit dem Bus bewältigen zu müssen. Sie führten ein sehr friedliches Zusammenleben, in dem es zwar auch mal Missverständnisse und Unstimmigkeiten, ja sogar Streit gab, aber im Großen und Ganzen war jeder froh, nicht mehr in den einsamen und bröckeligen Gängen zu sein. Selbst wenn der Nachbar mal unter dem Fußballfeld in der Stadt oder unter dem Rollfeld des Flughafens im Urlaub war, fand sich immer jemand, der auf den heimischen Gang aufpasste.
Wie schön es hier war, sprach sich sehr schnell auch bis zu anderen Maulwürfen herum, die zum Teil gerade erst anfingen, sich einen eigenen Gang zu graben, oder einfach ihre Sachen nahmen und ihren Gang bei den anderen BLINDzeln-Maulwürfen neu buddelten.
Immer wieder trafen sich alle abends am Lagerfeuer und ließen sich etwas Neues einfallen, um noch mehr Spaß miteinander zu haben.
Einige der alteingesessenen Maulwürfe in den alten Gängen beobachteten die Entwicklungen um BLINDzeln äußerst skeptisch. Sie fanden diese neue Gemeinschaft der Maulwürfe nicht schön, denn in einigen der alten Gänge schien es ruhiger zu werden und immer weniger Maulwürfe schienen sich für die alten Gänge und ihre Bewohner zu interessieren. Sicher lag das nur an dieser Gemeinschaft, die man einfach nicht verstehen wollte. Dafür war sie viel zu weit weg und wuchs in einem schier unvorstellbaren Tempo immer weiter an.
Die Maulwürfe der neuen Gemeinschaft nannten sich jetzt kurz BLINDzler und verfolgten nur ein großes Ziel: Sie wollten möglichst viele Maulwürfe zu den gemeinsamen Treffen abends am Lagerfeuer einladen, um ihnen zu zeigen, dass sie gemeinsam viel mehr erreichen könnten als allein auf sich gestellt. Dabei war es den BLINDzlern egal, wer sich zu ihnen gesellte. Ob der Maulwurf nun viel von sich und seiner Geschichte preisgeben wollte oder ob er Neuem gegenüber sehr aufgeschlossen war, ob er von vielen für unfreundlich, ja sogar unausstehlich gehalten wurde und nur ein Minimum an Gemeinschaft aufkommen ließ oder ob er schüchtern und zurückhaltend war, tat für sie nichts zur Sache. Wichtig war ihnen der gute Wille allein und dass man sich an die Grundregeln eines friedlichen Zusammenlebens und der Höflichkeit hielt.
Unser kleiner Mole war jetzt glücklich, weil er nicht mehr allein in den dunklen Gängen herumirren musste. Aber seine Idee für BLINDzeln, die ihn auch nach Rückschlägen weiter vorantrieb, war bisher nur zu einem kleinen Teil verwirklicht worden. Seine Idee nämlich, die von vielen so bereitwillig aufgenommen wurde, war folgende: Er wollte mit den anderen Maulwürfen möglichst viel erreichen, und nicht nur für die BLINDzler. Seine Überzeugung war es, dass sie gemeinsam an Zielen arbeiten sollten, die jedem Maulwurf etwas brachten, egal unter welchem Rasen er lebte. Denn gemeinsam kann man viel schneller große und schöne Gänge bauen und auch noch ganz andere Dinge erreichen, als wenn man dies ganz allein versuchen muss. Dazu war aber nicht nur die Zusammenarbeit der BLINDzler unter sich nötig, sondern nach Möglichkeit auch die Mithilfe und die Erfahrungen der alteingesessenen Maulwürfe der bereits erfahreneren und älteren Maulwurf-Gruppen. Aber Mole verstand auch sehr gut, dass die alten Lagerfeuer abends in den alten Gängen die älteren Geschichten hatten und es dort oft gemütlicher war, weil man sich viel länger kannte und schon Gänge zusammen gegraben hatte, lange bevorMole durch das Loch im Maulwurfshügel gefallen war. Und er verstand auch die damit verbundene Skepsis der übrigen Maulwürfe. Deshalb kehrte Mole von Zeit zu Zeit zu den alten Gängen zurück und setzte sich einfach zwischen die anderen Maulwürfe ans warme Feuer, lauschte den alten Geschichten, genoss die Gemütlichkeit und erzählte auch seine eigene Geschichte in der Hoffnung, dass die alten Maulwürfe zuhörten und ihn vielleicht ein wenig verstehen konnten. Er hoffte so sehr, dass sie ihr Misstrauen gegen BLINDzeln mit der Zeit verlieren würden, da er doch nichts Böses gegen sie und die übrigen Maulwürfe im Schilde führte. Er hoffte, dass irgendwann alle gemeinsam vielleicht erkennen würden, dass beides sehr wichtig war: Sowohl wenn die alten Maulwürfe ihre gemütlichen Geschichten aus alten Zeiten erzählten wie auch, wenn Mole wieder mit dem Bus zu den neuen Gängen fuhr, um mit den anderen Maulwürfen weiterhin neue Gänge zu bauen. Und vielleicht konnten sie gemeinsam ja irgendwann auch andere Tiere dazu überreden, ihre Gänge und Behausungen so zu bauen, dass auch die Maulwürfe darin gehen konnten.
Ob alle bis an ihr Lebensende glücklich miteinander leben werden, weiß heute niemand. Aber vielleicht wird irgendwann einmal ein Anderer dann diese Geschichte erzählen ...